BFH-Rechtsprechung

Aktenzeichen Suchbegriff Datum der Entscheidung  

Urteil vom 06. September 2023, I R 35/20

Wegzugsbesteuerung bei einem Wegzug in die Schweiz und Freizügigkeit

ECLI:DE:BFH:2023:U.060923.IR35.20.0

BFH I. Senat

AStG § 6 Abs 1, AStG § 6 Abs 4, AStG § 6 Abs 5, EGFreizügAbk CHE , AEUV Art 267, AO § 222, AEUV Art 49

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 14. Juni 2017, Az: 2 K 2413/15

Leitsätze

Auch wenn nach unionsrechtlichen Vorgaben in Verbindung mit dem sogenannten Freizügigkeitsabkommen der Europäischen Union und der Schweiz bei einem im Jahr 2011 erfolgten Wegzug in die Schweiz die im Wegzugszeitpunkt entstehende nationale Steuer auf den Vermögenszuwachs (Wegzugsteuer) dauerhaft und zinslos zu stunden ist (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Wächtler vom 26.02.2019 - C-581/17, EU:C:2019:138, Internationales Steuerrecht 2019, 260), hindert dies die Festsetzung der Steuer nicht.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 31.08.2020 - 2 K 835/19 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Im Streit steht, ob in Folge des Umzugs des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) von der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) in die Schweiz die sogenannte Wegzugsteuer gemäß § 6 des Außensteuergesetzes in der für das Jahr 2011 (Streitjahr) geltenden Fassung (AStG) festgesetzt werden darf.

  2. Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und seit 2008 Geschäftsführer der … GmbH (GmbH) mit Sitz in der Schweiz. An dieser GmbH ist er seit Gründung der Gesellschaft (im Juli 2007) mit einer Stammkapitaleinlage von … CHF (damit zu 50 %) beteiligt. Im Streitjahr war der Kläger zwar verheiratet, beantragte aber eine getrennte Veranlagung zur Einkommensteuer.

  3. Im März 2011 verzog er in die Schweiz, wo er seitdem wohnhaft ist. Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) informierte den Kläger, dass es in Folge des Umzugs einen steuerpflichtigen fiktiven Gewinn gemäß § 6 Abs. 1 AStG in Höhe von … € ansetzen werde. Der Kläger wies darauf hin, dass eine Besteuerung nicht mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.06.1999 (BGBl II 2001, 811) ‑‑Freizügigkeitsabkommen (FZA)‑‑, in Kraft getreten am 01.06.2002 (BGBl II 2002, 1692), in Einklang stehe. Die Besteuerung nicht realisierter stiller Reserven sei geeignet, eine Person vom Wegzug in die Schweiz abzuhalten. Deutschland habe es versäumt, für den Bereich des FZA eine der Stundungsregelung des § 6 Abs. 5 AStG entsprechende Regelung vorzusehen. Daher finde die Wegzugsbesteuerung keine Anwendung.

  4. Mit Bescheid vom 18.11.2014 setzte das FA gegenüber dem Kläger die Einkommensteuer für 2011 in Höhe von … € fest. Bei den Besteuerungsgrundlagen berücksichtigte es unter anderem Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Sinne des § 6 AStG i.V.m. § 17 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (EStG) in Höhe von … €. Mit seinem dagegen erhobenen Einspruch machte der Kläger unter anderem geltend, dass das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG) fehlerhaft nicht angewendet worden sei.

  5. Das FA erließ einen Änderungsbescheid, mit dem die Einkommensteuer in Höhe von … € festgesetzt wurde. Die Einkünfte des Klägers gemäß § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG reduzierte das FA auf … € (= 60 % von … €). Am 30.01.2015 erging erneut ein Änderungsbescheid mit einer reduzierten Einkommensteuerfestsetzung. Den fiktiven Veräußerungsgewinn berücksichtigte das FA nunmehr mit … €.

  6. Mit der Einspruchsentscheidung reduzierte das FA die Einkommensteuer aus nicht im Streit stehenden Gründen erneut auf nunmehr … €. Im Übrigen wies das FA den Rechtsbehelf als unbegründet zurück. Der Kläger zahlte die Wegzugsteuer während des Verfahrens "vorläufig" und hat keine Stundung mehr beantragt.

  7. Im Rahmen des Klageverfahrens richtete das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), über das dieser mit Urteil Wächtler vom 26.02.2019 - C-581/17 (EU:C:2019:138, Internationales Steuerrecht ‑‑IStR‑‑ 2019, 260; im Folgenden: EuGH-Urteil Wächtler) entschieden hat.

  8. Das FG gab der Klage mit Urteil vom 31.08.2020 - 2 K 835/19 statt (Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2021, 20).

  9. Mit seiner Revision macht das FA geltend, dass die Festsetzung der Wegzugsteuer gemäß § 6 AStG zulässig sei. Über die Frage, ob diese Steuer aus Gründen übernationalen Rechts gestundet werden müsse, sei nicht im Steuerfestsetzungs-, sondern im Steuererhebungsverfahren zu entscheiden.

  10. Das FA beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  11. Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

  12. Das dem Revisionsverfahren gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beigetretene Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat keinen Antrag gestellt. In der Sache unterstützt es das Anliegen des FA.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision des FA ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Auch wenn auf der Grundlage des im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens ergangenen EuGH-Urteils Wächtler § 6 AStG geltungserhaltend mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die Wegzugsteuer im Rahmen des Steuererhebungsverfahrens dauerhaft und zinslos von Amts wegen zu stunden ist, kann sie im (hier angegriffenen) Einkommensteuerbescheid festgesetzt werden.

  2. 1. Nach Maßgabe des nationalen Rechts (§ 6 AStG) ist die Wegzugsteuer im Streitfall durch Einkommensteuerbescheid festzusetzen und nicht zu stunden.

  3. Im Streitfall sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG erfüllt. Die unbeschränkte Steuerpflicht des Klägers, der er mehr als zehn Jahre lang im Inland unterlag, endete durch die mit dem Umzug in die Schweiz einhergehende Aufgabe des inländischen Wohnsitzes. Deshalb ist auf die von ihm gehaltene Beteiligung an der GmbH auch ohne Veräußerung § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG anzuwenden, was zum Ansatz eines fiktiven Veräußerungsgewinns führt. Eine dauerhafte Stundung der Wegzugsteuer sieht § 6 AStG nicht vor. Die in § 6 Abs. 4 AStG zugestandene zeitlich befristete Teil-Stundung hat der Kläger ausdrücklich nicht (mehr) beantragt; vielmehr hat er die festgesetzte Wegzugsteuer entrichtet, ohne sich auf die in § 6 Abs. 4 AStG tatbestandlich vorausgesetzte "erhebliche Härte" zu berufen. Im Übrigen kommt eine Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG nur bei einem Wegzug in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in Betracht und ist daher im Streitfall (Schweiz) nicht einschlägig. Da über diese Rechtsgrundsätze nach Maßgabe des nationalen Rechts zwischen den Beteiligten im Übrigen kein Streit besteht, sieht der Senat von näheren Ausführungen ab.

  4. 2. Die Vorinstanz hat entschieden, dass das FZA der Festsetzung der Wegzugsteuer im angegriffenen Einkommensteuerbescheid entgegenstehe. Auf der Grundlage der im Klageverfahren eingeholten Vorabentscheidung des EuGH (EuGH-Urteil Wächtler) sei der Kläger Selbständiger im Sinne des FZA, womit der persönliche Anwendungsbereich eröffnet sei. Durch die Wegzugsbesteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Einkommensteuer werde der Kläger in seinem dort verbrieften Recht auf Gleichbehandlung und damit seinem Niederlassungsrecht (Anh. I Art. 15 i.V.m. Art. 9 FZA) verletzt. Im Streitfall sei nicht erst das Leistungsgebot im angegriffenen Steuerbescheid rechtswidrig, sondern bereits die Steuerfestsetzung. Dies folge aus dem Tenor des EuGH-Urteils Wächtler, der das "Steuersystem" bestehend aus Komponenten der Steuerfestsetzung und -erhebung betreffe. Das nationale Recht kenne aber kein System, das die Feststellung der Steuerhöhe im Wegzugszeitpunkt bei gleichzeitiger dauerhafter Stundung der festgesetzten Steuer vorsehe. Es sei auch nicht möglich, die vom EuGH formulierten übernationalen Vorgaben im Wege der sogenannten geltungserhaltenden Reduktion in die bestehenden nationalen Vorschriften hineinzulesen.

  5. 3. Dieser Auffassung des FG ist nicht uneingeschränkt zu folgen.

  6. a) Rechtsfehlerfrei hat das FG berücksichtigt, dass es im Rahmen der zu treffenden Sachentscheidung selbst ‑‑wie im Übrigen darüber hinaus auch die konkret am vorliegenden Rechtsstreit Beteiligten und auch der Bundesfinanzhof (BFH) als Revisionsgericht (s. insoweit allgemein BFH-Urteil vom 11.02.2003 - VII R 1/01, BFH/NV 2003, 1100)‑‑ an die im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Entscheidung des EuGH gebunden ist. Dabei ist der Tenor des EuGH-Urteils Wächtler im Lichte der ihm zugeordneten Entscheidungsgründe auszulegen (s. allgemein EuGH-Urteile Bosch/Hauptzollamt Hildesheim vom 16.03.1978 - Rs. 135/77, EU:C:1978:75; Kommission/Italien vom 19.01.1993 - C-101/91, EU:C:1993:16, Rz 14, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1995, 105; s.a. Ehricke in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl., Art. 267 AEUV Rz 68; Schönfeld/Erdem, Steuer und Wirtschaft ‑‑StuW‑‑ 2022, 70; Cordewener in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 895, 906). Für diese Auslegung kommt es nicht darauf an, ob der EuGH in früher ergangenen oder späteren Entscheidungen zu vergleichbaren Sachumständen nach denselben Maßgaben erkannt hat.

  7. b) Gemessen daran kann kein Zweifel bestehen, dass der EuGH in seinem Urteil Wächtler das deutsche, aus Regelungen für die Steuerfestsetzung und Regelungen für die Steuererhebung bestehende und insbesondere in § 6 Abs. 1, 4 und 5 AStG kodifizierte "System" der Wegzugsbesteuerung bei Wegzügen in die Schweiz verworfen hat, weil es das FZA-Niederlassungsrecht der betroffenen Steuerpflichtigen verletzt. Mithin ist, wie vom FG richtig erkannt, eine dauerhafte und zinslose Stundung des gesamten Betrags der festgesetzten Wegzugsteuer geboten (gleicher Auffassung z.B. Häck, Internationale Steuer-Rundschau ‑‑ISR‑‑ 2020, 17; Häck/Kahlenberg, IStR 2019, 253; Häck in Hummel/Kaminski [Hrsg.], Neue Herausforderungen im Internationalen Steuerrecht, 2022, S. 1, 6 f.; Hörnicke, ISR 2021, 97, 98 f.; Hohenwarter-Mayr, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2019, 129; Oellerich, EFG 2021, 25; Schlücke, IStR 2019, 264; Weiss, Ertrag-Steuerberater 2019, 117; s.a. Schönfeld/Erdem, StuW 2022, 70, 77 ff.; FG Köln, Beschluss vom 11.05.2021 - 2 V 1929/20, juris; a.A. BMF-Schreiben vom 13.11.2019, BStBl I 2019, 1212).

  8. aa) Nach dem Tenor des EuGH-Urteils Wächtler sind "Die Bestimmungen des … [FZA] dahin auszulegen, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d.h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt."

  9. bb) Nach den zur Auslegung heranzuziehenden Entscheidungsgründen stellt der EuGH mit Blick auf die der Rechtsprüfung des EuGH unterliegenden nationalen Vorschriften zur Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 1, 4 und 5 AStG - s. dort Rz 25) den Umstand einer Ungleichbehandlung fest (dort Rz 56 f.). Denn der Kläger, der sein Niederlassungsrecht ausgeübt habe, erleide einen steuerlichen Nachteil gegenüber Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten hätten. Denn Letztere müssten die Steuer für latente Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse realisiert würden, das heißt bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile, während ein Staatsangehöriger wie der Kläger die fragliche Steuer für die latenten Wertzuwächse solcher Gesellschaftsanteile im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes in die Schweiz zahlen müsse, ohne einen Zahlungsaufschub bis zur Veräußerung der Anteile erhalten zu können. Diese Ungleichbehandlung, die einen Liquiditätsnachteil darstelle, sei geeignet, den Kläger davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß dem FZA tatsächlich Gebrauch zu machen. Und Rz 60 ist zu entnehmen, dass der EuGH im Hinblick auf das von § 6 AStG verfolgte Ziel die Vergleichbarkeit zwischen einer Person, die ihren inländischen Wohnsitz beibehält, und einer Person, die von Deutschland in die Schweiz verzieht, bejaht.

  10. Dass die Ungleichbehandlung durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein könne, wird vom EuGH ausgeschlossen (Rz 67). Dazu stellt der EuGH in Rz 64 zunächst fest, dass die Bestimmung der Höhe der fraglichen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz zwar eine geeignete Maßnahme sei, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland sicherzustellen. Dieses Ziel sei jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass eine Stundung dieser Steuer unmöglich sei. Denn eine solche Stundung bedeute nicht, dass Deutschland zugunsten der Schweiz auf ihre Befugnis zur Besteuerung der Wertzuwächse, die während des Zeitraums der unbeschränkten Steuerpflicht des Inhabers der Gesellschaftsanteile in Deutschland entstanden seien, verzichte. Da aufgrund des bestehenden Informationsaustauschs Deutschland Auskünfte über eine etwaige Veräußerung der Gesellschaftsanteile erhalten könne, sei die fehlende Möglichkeit der Stundung der Wegzugsteuer eine Maßnahme, die über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen erforderlich sei (Rz 65).

  11. In Rz 66 qualifiziert der EuGH die alsbaldige Einziehung der Wegzugsteuer im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung zwar als geeignete Maßnahme, um eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten. Allerdings sei die Maßnahme unverhältnismäßig. Denn im Falle des Fehlens von Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen sei zwar ein Risiko der Nichteinziehung der geschuldeten Steuer gegeben. Jedoch könne in diesem Falle der Aufschub der Einziehung dieser Steuer von der Leistung einer Sicherheit abhängig gemacht werden. Schließlich geht der EuGH in Rz 68 auf eine nationale Steuerregelung ein, bei der es sich offenkundig um § 6 Abs. 4 AStG handelt. Die dort vorgesehene Möglichkeit der Zahlung der Wegzugsteuer in Teilbeträgen stehe der in Rz 67 getroffenen Feststellung, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuersystem eine ungerechtfertigte Beschränkung des vom FZA vorgesehenen Niederlassungsrechts darstellt, nicht entgegen. Denn die Maßnahme der Ratenzahlung sei jedenfalls nicht geeignet, den Liquiditätsnachteil aufzuheben, der mit der Verpflichtung zur Zahlung eines Teils der Wegzugsteuer im Wegzugszeitpunkt einhergehe. Außerdem bleibe diese Maßnahme kostspieliger als eine Maßnahme, die die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung der Anteile vorsähe.

  12. cc) Der Senat erachtet diese Aussagen des EuGH im Urteil Wächtler als klar und eindeutig. Auch wenn der EuGH in anderen Entscheidungen, die das beigetretene BMF zur Begründung seiner abweichenden Rechtsauffassung heranzieht, die aber zu anderen Lebenssachverhalten und anderen nationalrechtlichen Bestimmungen ergangen sind, abweichende fallspezifische Rechtsausführungen gemacht haben sollte, stellt das EuGH-Urteil Wächtler die den Senat "bindende Momentaufnahme" (so allgemein Cordewener in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 895, 910) hinsichtlich der Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Wegzugsbesteuerung natürlicher Personen im Anwendungsbereich des FZA dar. Es besteht wegen der Bindungswirkung (siehe zu a) auch weder Grund noch Anlass für eine (für diesen Rechtsstreit: erneute) Vorlage einer Rechtsfrage an den EuGH.

  13. dd) Damit ist, um dem Kläger die Ausübung seines Rechts, sich in der Schweiz niederzulassen, zu ermöglichen, eine bis zum Veräußerungszeitpunkt andauernde Stundung der ‑‑im Wegzugszeitpunkt zulässigerweise festzusetzenden‑‑ gesamten Wegzugsteuer geboten. Diese Stundung darf gegebenenfalls von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden (EuGH-Urteil Wächtler, Rz 66; s.a. Häck, ISR 2020, 17), nicht aber mit einer Verzinsung einhergehen, weil dies zu einem Liquiditätsnachteil gegenüber einem im Inland verbleibenden Steuerpflichtigen führt, der bis zu einer Veräußerung der Anteile keinen Zahlungspflichten unterliegt (z.B. Oellerich, EFG 2021, 25; s.a. Häck/Kahlenberg, IStR 2019, 253; Schlücke, IStR 2019, 264; a.A. BMF-Schreiben vom 13.11.2019, BStBl I 2019, 1212). Auch insoweit erachtet der Senat die Aussagen in Rz 57 und 68 des EuGH-Urteils Wächtler für eindeutig und nachvollziehbar. In Rz 68 wird zwar speziell das ‑‑nationalrechtlich allerdings mit einer Verzinsung einhergehende‑‑ Teilbetragszahlungskonzept des § 6 Abs. 4 AStG in den Blick genommen. Allerdings geht mit einer gegebenenfalls viele Jahre andauernden Zinszahlungsverpflichtung ebenfalls ein ganz erheblicher Liquiditätsnachteil einher. Eine verzinsliche Stundung ist im Sinne der Ausführungen unter Rz 68 des EuGH-Urteils Wächtler zweifellos auch deutlich kostspieliger als eine Maßnahme, die schlicht die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung der Gesellschaftsanteile vorsieht.

  14. c) Nicht anschließen kann sich der Senat allerdings der Meinung des FG, dass das unter Beachtung der FZA-Maßgaben Gebotene (dauerhafte, unverzinsliche Stundung) nicht in die nationalen Rechtsvorschriften hineingelesen werden könne, was damit die Rechtswidrigkeit der Festsetzung der Wegzugsteuer zur Folge habe. Vielmehr führt auch die Verwendung des Begriffs "Steuersystem" im Tenor des EuGH-Urteils Wächtler nicht dazu, dass die Festsetzung der Wegzugsteuer ‑‑wie das FG meint‑‑ unzulässig ist.

  15. aa) Das FG hat die Reichweite der in ständiger Rechtsprechung bei Unionsrechtsverstößen zugelassenen sogenannten geltungserhaltenden Reduktion des nationalen Rechts zu eng bestimmt. Denn es geht insoweit um eine Gesetzesanwendung, die den Anwendungsvorrang des unmittelbar geltenden Unionsrechts unter größtmöglicher Wahrung des national-rechtlichen Gesetzesbefehls sicherstellt (vgl. auch Cordewener in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 895, 911 ff.). Die Unionsrechtswidrigkeit führt danach gerade nicht zu einer vollständigen Unanwendbarkeit oder Nichtigkeit der nationalen Vorschrift. Vielmehr ist dem Anwendungsvorrang des Primärrechts vor nationalem Recht durch das "Hineinlesen" der vom EuGH verbindlich formulierten unionsrechtlichen Erfordernisse in die betroffene Norm Rechnung zu tragen (z.B. Senatsurteile vom 03.02.2010 - I R 21/06, BFHE 228, 259, BStBl II 2010, 692; vom 15.01.2015 - I R 69/12, BFHE 249, 99, m.w.N.). Infolgedessen kann es geboten sein, ein "europarechtswidriges Tatbestandsmerkmal" nicht zu beachten (BFH-Urteile vom 17.07.2008 - X R 62/04, BFHE 222, 428, BStBl II 2008, 976; vom 21.10.2008 - X R 15/08, BFH/NV 2009, 559) oder einen im nationalen Gesetz nicht vorgesehenen Gegenbeweis zuzulassen (z.B. Senatsurteile vom 21.10.2009 - I R 114/08, BFHE 227, 64, BStBl II 2010, 774; vom 03.02.2010 - I R 21/06, BFHE 228, 259, BStBl II 2010, 692), im Übrigen aber die Vorschrift in ihrem Bestand zu erhalten.

  16. bb) Nach diesen allgemeinen Maßstäben, die im Schrifttum Zustimmung erfahren haben (z.B. Hey, StuW 2010, 301; Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf [Hrsg.], Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, S. 279, 293 ff.) und auch im Bereich der Anwendung der FZA-Maßgaben Anwendung finden, um eine materiell-rechtliche Besserstellung der dortigen Regelungsadressaten im Vergleich zu Unionsrechtsbürgern bei Anwendung der Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu verhindern, ist es zulässig, im Zeitpunkt des Wegzugs in die Schweiz die Wegzugsteuer gemäß § 6 Abs. 1 AStG festzusetzen (a.A. Hörnicke, ISR 2021, 97, 101 und 103; wohl auch Schönfeld/Erdem, StuW 2022, 70, 93). Damit wird auch ermöglicht, auf den Zeitpunkt des Wegzugs festzuhalten, auf welchen Anteil des Steuersubstrats das Besteuerungsrecht des Wegzugsstaates entfällt (so FG Köln, Beschluss vom 11.05.2021 - 2 V 1929/20, juris, Rz 33). Zugleich ist aber den vom EuGH verbindlich formulierten Vorgaben dadurch Rechnung zu tragen, dass die im nationalen Gesetz nicht vorgesehene zinslose und bis zur Anteilsveräußerung andauernde Stundung von Amts wegen zu gewähren ist, um dem Steuerpflichtigen die Ausübung seines Rechts, sich in der Schweiz niederzulassen, zu ermöglichen.

  17. 4. Die hiernach vom FZA geforderte Stundung wird im Streitfall nicht durch die Zahlung der Wegzugsteuer durch den Kläger ausgeschlossen.

  18. Nach der Rechtsprechung des BFH geht eine nach Entrichtung der Steuer ausgesprochene Stundung nicht "ins Leere". Eine Stundung kann vielmehr auch für bereits vergangene Zeiträume und auch für bereits gezahlte Steuern gewährt werden (BFH-Urteile vom 22.04.1988 - III R 269/84, BFH/NV 1989, 428; vom 08.07.2004 - VII R 55/03, BFHE 206, 309, BStBl II 2005, 7).

  19. Im Übrigen ist über die mit dem Stundungsanspruch verbundenen Fragen nicht im vorliegenden ‑‑allein die Steuerfestsetzung betreffenden‑‑ Verfahren, sondern gesondert im Rahmen des Erhebungsverfahrens zu entscheiden.

  20. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Quelle: https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE202310249/



Zurück zur Übersicht

Seitenanfang