BFH-Rechtsprechung

Aktenzeichen Suchbegriff Datum der Entscheidung  

Beschluss vom 22. August 2023, VIII B 76/22

Zu den Anforderungen an die Weiterleitung eines Irrläuferschreibens durch das Finanzamt im ordnungsgemäßen Geschäftsgang

ECLI:DE:BFH:2023:B.220823.VIIIB76.22.0

BFH VIII. Senat

AO § 110 Abs 1, AO § 357 Abs 1, AO § 357 Abs 2 S 4, FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, FGO § 116 Abs 3 S 3

vorgehend FG München, 23. Mai 2022, Az: 8 K 2391/21

Leitsätze

NV: Die Frage, innerhalb welchen Zeitraums und unter welchen Umständen der Bearbeitung ein Irrläuferschreiben zur Einlegung eines Einspruchs vom unzuständigen Finanzamt an das zuständige Finanzamt noch als innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs weitergeleitet anzusehen ist, ist nicht abstrakt klärungsfähig.

Tenor

Die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 23.05.2022 - 8 K 2391/21 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Gründe

  1. Die Beschwerde ist unbegründet.

  2. Die Revision ist nicht wegen der vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt ‑‑FA‑‑) geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) und der Erforderlichkeit einer Zulassung zur Rechtsfortbildung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) zuzulassen.

  3. 1. In der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist zur Wiedereinsetzung eines Einspruchsführers gemäß § 110 Abs. 1 der Abgabenordnung in die Einspruchsfrist geklärt, dass ein schuldhaftes Handeln des Einspruchsführers oder ein solches ihm zuzurechnendes Handeln des Prozessbevollmächtigten vorliegt, wenn ein Einspruch an eine unzuständige Finanzbehörde gerichtet wird. Unter bestimmten Voraussetzungen kann dieses schuldhafte Handeln jedoch durch eine Mitverantwortung des angegangenen Finanzamts überlagert werden. Dieses ist verpflichtet, einen Schriftsatz zur Einspruchseinlegung, der eindeutig als fehlgeleitet erkennbar ist, im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs ohne schuldhaftes Zögern an das zuständige Finanzamt weiterzuleiten. Dies setzt voraus, dass der Einspruch so zeitig bei dem unzuständigen Finanzamt eingereicht worden ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Finanzamt im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann. Hat das angegangene Finanzamt die Übermittlung schuldhaft verzögert oder überhaupt unterlassen, kommt im Falle willkürlichen, offenkundig nachlässigen und nachgewiesenen Fehlverhaltens eine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist in Betracht. Es besteht für das angegangene Finanzamt aber keine Pflicht zur sofortigen Prüfung und Weiterleitung noch am Tage des Eingangs des Schriftsatzes oder zu einer beschleunigten Weiterleitung (grundlegend Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 20.06.1995 - 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, unter C.II.; vom 02.09.2002 - 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835, unter II.1.a und 1.b; nachgehend BFH-Urteil vom 22.10.2002 - VII R 53/02, juris; BFH-Beschlüsse vom 27.10.2004 - XI B 130/02, BFH/NV 2005, 563; vom 15.01.2009 - XI B 99/08, BFH/NV 2009, 778, unter 2.a und b [Rz 5, 6]; vom 28.06.2012 - XI B 44/12, Rz 17; vom 12.07.2017 - X B 16/17, BFHE 257, 523, Rz 46, 47).

  4. 2. Eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO kommt nicht in Betracht, weil das FA anknüpfend an die unter 1. dargelegten Grundsätze im Kern geltend macht, das Finanzgericht (FG) habe eine Weiterleitung des Schreibens durch das angegangene Finanzamt im ordnungsgemäßen Geschäftsgang im Streitfall rechtsfehlerhaft verneint. Zudem fehlt es an der Klärungsfähigkeit der vom FA aufgeworfenen Frage.

  5. a) Das FA hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob ein unzuständiges angegangenes Finanzamt sich die Weiterleitung von (Einspruchs-)Schreiben an das zuständige Finanzamt nach Ablauf von mehr als 72 Stunden nach Eingang als nicht mehr im ordnungsgemäßen Geschäftsgang entgegenhalten lassen muss, weil diese Zeitspanne als Maßstab eines verwaltungsseitig ordnungsmäßigen Agierens zu betrachten sei. Es hält diese Frage im Hinblick auf die standardisierten Abläufe der Behandlung solcher Schreiben in den bayerischen Finanzämtern (Eingang in der Poststelle, Weitergabe an die Sachgebietsleitung mit der Eingangspost, Weitergabe an den Bezirk, Verbringen der Ausgangspost) für abstrakt klärungsfähig und klärungsbedürftig, weil es für die Praxis von hoher Bedeutung sei, ob es eine zeitliche Höchstgrenze gebe, bei deren Überschreiten nicht mehr von einer Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang ausgegangen werden könne und ob von den Finanzämtern im Allgemeinen ein zeitliches Höchstmaß von drei Tagen für die Weiterleitung zu beachten sei.

  6. b) Die Revision ist wegen der aufgeworfenen Frage jedoch nicht zuzulassen. Das FA macht mit seinem Vorbringen im Kern eine unzutreffende rechtliche Entscheidung des FG im Streitfall geltend. Es hält die Würdigung des FG im Streitfall, das Schreiben sei vom unzuständigen Finanzamt nicht mehr im Rahmen eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs weitergeleitet worden, weil dies nicht binnen 72 Stunden nach dem Eingang des Schreibens geschehen sei, für fehlerhaft (vgl. zur Einkleidung einer einzelfallbezogenen Rüge eines Rechtsfehlers in eine abstrakte Fragestellung BFH-Beschluss vom 04.05.2021 - VIII B 121/20, Rz 3, 4). Die Rüge, die Vorentscheidung sei rechtsfehlerhaft, ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ‑‑abgesehen vom hier nicht vorliegenden Fall eines schwerwiegenden Rechtsanwendungsfehlers des FG jedoch unbeachtlich.

  7. c) Zudem fehlt es trotz des standardisierten Verfahrensablaufs und Geschäftsgangs zur Behandlung fehlgeleiteter Schreiben innerhalb der bayerischen Finanzämter auch an der abstrakten Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Frage. Der Senat könnte in einem Revisionsverfahren nicht allgemeingültig beantworten, wann unter Beachtung der vorgesehenen Bearbeitungsschritte noch von einer Weiterleitung des Irrläuferschreibens im ordnungsgemäßen Geschäftsgang auszugehen sein könnte, weil eine unüberschaubare Vielzahl von unterschiedlichen Situationen denkbar ist. Die Konkretisierung einer grundsätzlich bedeutsamen Rechtsfrage erfordert regelmäßig, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder mit "Nein" beantwortet werden kann. Unzulässig ist eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalls abhängt (vgl. BFH-Beschluss vom 29.03.2022 - VI B 61/21, Rz 4).

  8. d) Der Hinweis auf das beim Senat anhängige Revisionsverfahren VIII R 2/22 genügt für eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung ebenfalls nicht. Denn die aus Sicht des FA klärungsbedürftige Fragestellung des Streitfalls und jenes Verfahrens betrifft jeweils eine nicht abstrakt klärungsfähige Rechtsfrage, nämlich unter welchen Umständen von der Weiterleitung eines fehlgeleiteten Schreibens an den zuständigen Adressaten im ordnungsgemäßen Geschäftsgang durch das Empfängerfinanzamt auszugehen ist.

  9. 3. Eine Zulassung der Revision zur Rechtsfortbildung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO kommt ebenfalls nicht in Betracht. Dieser Zulassungsgrund stellt einen Spezialfall des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO dar. Auch dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine klärungsbedürftige und klärbare abstrakte Rechtsfrage darlegt, für die die Rechtsfortbildung geprüft werden soll (BFH-Beschluss vom 30.05.2023 - VIII B 15/22, Rz 11). An einer solchen Rechtsfrage fehlt es aus den dargelegten Gründen.

  10. 4. Der Senat sieht gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO von einer Darstellung des Tatbestands und einer weiteren Begründung ab.

  11. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.



Zurück zur Übersicht


Seitenanfang